Jan Saudek


Text aus dem Verlagskatalog für das Buch Intime Einblicke in private Obsessionen
Jan Saudek über Jan Saudek


Jan Saudek von Daniela Mrazkova


Jan Saudek ist zweifellos die provokativste Gestalt in der ganzen Geschichte der tschechoslowakischen Fotografie. Mir ist jedenfalls kein anderer ähnlicher Fall bekannt, in dem eine geradezu adorative Bewunderung von einem bis zur rastlosen Verdammung reichendem Mißfallen begleitet würde. Saudek wird geachtet und verleugnet, gefeiert und verpönt, anerkannt und mißachtet. Warum?

Jan Saudek reizt ganz einfach. Mit allem. Mit seinem Aussehen, mit seinem Benehmen, mit seiner Redeweise, seinem tärizerischen Gang. Er provoziert mit seiner Narrheit und erregt mit seinem ostentativen Erotismus. Er wirkt durch eine eigenartige, sich um ihn her ausbreitende Unruhe, aus deren Aktionsradius es kein Entkommen gibt, wenn man erst einmal von ihr gepackt ist. Er absorbiert sein Gegenüber durch eine Mischung aus Zärtlichkeit und Gewalt, Traditionalismus und Extravaganz, Lyrismus und Ironie, Romantik und Obszönität. Frauen sind in der Regel bezaubert, denn sie werden hilflos und lassen sich willfährig in die magische Welt seiner Spiele einbeziehen. Männer sind normalerweise in Verlegenheit, die in Bezauberung übergeht oder in jähen Haß umschlägt. Denn sie sind gleichfalls - hilflos.

Das Aufreizendste an Jan Saudek ist sein Lebensweg, meilenweit unterschieden von allem Üblichen, Normalen, Gehörigen ... Er durchbricht alle künstlerischen, gesellschaftlichen und ethischen Konventionen, und doch spendet ihm die Welt Beifall. Noch nie hat er fotografiert, nur um Geld zu verdienen, und doch hat er mit der Kamera nicht nur seinen Unterhalt verdient; seine Arbeiten halten auf dem Kunstmarkt seit Jahren ihren ziemlich exklusiven Preis. Nie und nirgends ist er um eine Ausstellung oder Publikation anhängig geworden, und doch wurde er zu einem der meistausgestellten und meistpublizierten Fotografen der Gegenwart. Nie ist er Dingen nachgelaufen, die gerade in waren, und doch war er fast zwei Jahrzehnte lang für sich selbst in. Und am aufreizendsten ist wohl das Bewußtsein, daß er mit dem, was er zum eigenen Vergnügen in der Freizeit, die ihm ein prosaischer Arbeiterberuf ließ, getrieben hat, zu Weltruhm gelangt ist. Das muß ganz einfach provozieren. Jan Saudek scheint also ein Glückskind zu sein, doch ist wohl eher das genaue Gegenteil wahr.

Sein Lebensweg ist ein einziger langer Leidensweg, an dessen Anfang eine tragisch mit dem Hitlerschen Kainszeichen der nichtarischen Abstammung gebrandmarkte Kindheit stand, die dann für immer seine unerfüllbare Sehnsucht nach Sicherheit und Wärme von Familienbanden bestimmen sollte. Nach dein "Antlitz eines Zuhause, das ich immer wollte und nie haben werde", nach dem, was "ich nicht erleben, aber darstellen kann".

Dann der Krieg. Der verschlug ihn und seinen Bruder in ein Kinderlager irgendwo an der polnischen Grenze. Wohl ein Sprungbrett ins KZ mit Zwillingsselektion für die Versuche des Dr. Mengele. Noch keine zehn Jahre alt, sah er Menschen sterben. Lernte Leid und Hunger kennen. Reifte vorzeitig heran und sah das alles mit wissenden Augen. Vielleicht hat er deshalb sein ganzes restliches Leben die allerschlichtesten Dinge zu schätzen gewußt daß er zu essen hatte, daß er gerade nicht im Regen stand, daß er überhaupt lebte. Und zugleich wurde er ewig von der Angst begleitet, all dies wieder verlieren zu können. Nie spricht er von den Einzelheiten jener traurigen Zeit, wie übrigens alle, die das echte Grauen durchgemacht haben. Nur gleichsam nebenbei bemerkt er, daß er bis zu seinem vierten Jahr glücklich war. Bis dahin war sein Vater Bankdirektor, nach dem Einmarsch der Nazis nur noch Straßenkehrer und Häftling. Nach Kriegsende hat er noch eine zeitlang als Beamter gearbeitet, doch nach 1948 kam wieder alles anders. "Vielleicht war in mir auch das unbewußte Verlangen der kleinen Leute, sich aus dem großen Loch hochzuarbeiten und an die Sonne zu kommen."

Jan Saudek gehört zu einer Generation, deren Vernichtung Hitler mit seinem Faschismus begonnen hatte. Kaum war das nackte Leben gerettet, kam eine weitere Totalität und wieder mußte ein Kampf um die blanke Existenz geführt werden. Zum Glück verfügt er über jene eigenartige Vitalität der Nachfahren des schwergeprüften Hebräervolks, die schließlich immer einen Ausweg findet, sei die Situation auch noch so schwierig und verworren. Von seinen Ängsten befreit sie ihn aber nicht, die sollten für immer ein unzertrennlicher Bestandteil seiner Tage bleiben.

Das ist nun vor allem die unterbewußte Existenzangst, an der alle leiden, die einmal Not, Kälte und Hunger gelitten haben. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, daß er sich schon längst keine sonderlichen materiellen Sorgen mehr machen muß. Die Angst vor Hunger und physischem Leiden bleibt und führt nicht selten zu geradezu pathologischen Zuständen, doch ist das bei Saudek freilich nicht der Fall. Allerdings... "von meiner Arbeit hätte ich gern auch ein wenig Freude, etwa so, daß ich mir immer eine große Flasche Becherbitter leisten und mit einer Freundin austrinken kann und nicht daran denken muß, daß ich anderntags nichts mehr zu essen habe." Sicher, das ist seine Art und Weise des leichtfertigen Bonmots, doch auch in diesem Understatement läßt sich die Schwere einstiger Erfahrungen erahnen. Und dann ist da die Angst vor der Macht. Die wurde zuerst von den Faschisten verkörpert und danach vom Sicherheitsapparat des sozialistischen Staats, dessen aufmerksamer Aufsicht sich Jan Saudek jahrelang erfreute. Daraus war geradezu ein Verfolgungswahn geworden. Er fürchtete die verschiedensten Bezichtigungen - Verbreitung von Pornographie, Devisenvergehen, Unzucht mit Minderjährigen, unerlaubte Ausfuhr von Kunstwerken, staatsfeindliche Umtriebe, Homosexualität, unerlaubte Publikationstätigkeit im Ausland. "Möglicherweise war es schon eine Panphobie, daß ich überall irgendwelche gräßlichen Gefahren lauem sah, die vielleicht gar nicht bestanden. Aber wer einmal eine Untersuchung durch die Staatssicherheit erlebt hat, wird mich da nicht widerlegen wollen. Zum Schluß hatte ich schlechtweg Angst vor allem und jedem." Bis 1982 war er als Handwerker beschäftigt, nur um in diesem Staat mit seiner gesetzlich festgelegten Arbeitspflicht nicht des Parasitierens beschuldigt werden zu können. Ein schönes Paradox in einer Zeit, als sich bei ihm Redakteure namhafter Periodika aus aller Welt, Kuratoren von Kunstsammlungen und Galeriebesitzer die Klinke in die Hand gaben. In der Heimat hatte er sogar Angst, auszustellen. Nur um nicht unnötig zu reizen oder zu provozieren. Und das nicht nur die von der Staatssicherheit verkörperte, sondern auch die von den staatlich gesteuerten Kunst- und Kulturinstitutionen repräsentierte Macht, mißgünstige Kollegen und sonstige Neider aber auch alle, die an seinen Arbeiten Anstoß genommen hätten. "Nichts ist mir unangenehmer als jedwedes Geschrei, Skandale, Affären. Am allerliebsten würde ich in völliger Abgeschiedenheit, Ruhe, abseits von allem arbeiten. Affären habe ich nämlich mehr als genug erlebt und alle zutiefst durchlitten ... Zu Hause habe ich mich mit ein paar Bildern an verschiedenen Gemeinschaftsausstellungen beteiligt, aber auch die ganz unschuldigen Sachen, die ich da vorgestellt habe, riefen eine sehr unliebsamen Reaktion hervor."

Notwendigerweise muß gesagt werden, daß es Jan Saudek auch ohne eigenes Dazutun gelungen ist, in der Isolation zu leben. Der Künstlerverband hat ihn so lange es nur irgend ging nicht zur Kenntnis genommen, alle übrigen offiziellen Institutionen zogen da mit. "jawohl, das war eine eigenartige Situation. Einmal habe ich an der französischen Botschaft in Prag die Graphikerin Frau Simotova getroffen und die hat sich nur gewundert: Herr Saudek, was machen Sie denn hier, Sie leben doch in Paris! Andere wieder nahmen an, ich lebe in der Schweiz, sei ein Agent des FBI oder CIA. Oder unlängst verstorben. Als ich vor Jahren einmal als Mitglied irgendeiner Jury nach Fribourg eingeladen wurde, hat das Kulturministerium geantwortet, daß ich überhaupt nicht existiere."

Saudeks Ängste sind auch von anderer Art, aber in ausnahmslos allen klingt eine existentielle Note mit an. Das ist die sich periodisch wiederholende Angst, genährt von Zweifeln am eigenen Ich, an der eigenen Fähigkeit, etwas genau so Gutes wie vorher schaffen zu können, mit etwas Neuem, Starkem kommen zu können, einem Beweis, daß er noch nicht alles restlos ausgedruckt, sich noch nicht erschöpft hat. Denn mit der Gewißheit, alles hergegeben zu haben, verlöre für ihn das Leben seinen Wert. "Manchmal kann ich nachts nicht schlafen und habe Angst, nie wieder ein Bild hinzukriegen, ein zutiefst menschliches Bild, so eins, das die Leute anschauen und fühlen, jawohl, das ist genau das Richtige. Ich habe Angst, daß ich etwas nicht noch einmal fertigbringe oder daß es nicht mehr in mir steckt. Oder es steckt noch drin, aber ich kriege es nicht aus mir heraus, wann und wie ich gerne möchte. Deswegen kann ich nicht einfach hingehen und sagen: so, heute Abend mach ich Kunst." Und mit dieser dem schöpferischen Menschen zutiefst eigenen Befürchtung hängen auch seine weiteren Ängste zusammen die vor der fließenden Zeit und dem Tod. Von dort stammen auch seine nach und nach abfallenden Rosenblätter, die Verwandlungen der Mädchengestalten nach fünf oder zehn Jahren, die Konfrontationen der Körper von Töchtern mit dem Aussehen der Mutter, die schrittweise Transformation einer reizenden Frau in einen Affen und nicht zuletzt auch die personifizierende Bilderserie vom Tod des Soldaten. Hier projiziert Saudek sich selbst nicht nur als einen der Akteure in eine Szene oder Story wie in den meisten anderen Fällen, sondern tritt als einziges Modell auf. Er stellt sich nostalgisch in der Uniform der österreichisch-ungarischen Armee aus dem ersten Weltkrieg vor und von der ersten Aufnahme des ausgemergelten Landsers in voller Feldausrüstung an spielt er hier in seiner Bildersymbolik das Drama von dessen Leiden und Untergang ab. Er wird gefangen, entkleidet, getötet und begraben ... hat ausgeliebt, ausgelitten, ist am Ende seiner Wege angelangt. Zurück bleibt nur ein Kreuz auf einem Erdhügel. Mit den fortschreitenden Jahren ist so das Phänomen Zeit immer nachhaltiger in Saudeks Fotografien getreten. Ein Bewußtsein von den Wandlungen, mit denen die Zeit auf und in uns wirkt. Die Vision der verstreichenden Zeit und die Mühe, ihr die Stirn zu bieten, fuhren auch dazu, daß Saudek womöglich noch mehr schuftet als je zuvor. Seinen beachtlichen Fleiß hat er sich selbst immer so erklärt, daß er auf diese Weise seiner unterbewußten Sehnsucht, sich aus allem Elend zur Sonne hochzuarbeiten, nachgekommen ist. Heute kommt sicher auch noch das Verlangen hinzu, mehr und noch Besseres zu schaffen, um jene Spur, die er ins Antlitz der Zeit gräbt, möglichst tief werden zu lassen. Und so arbeitet er täglich ab vier, fünf Uhr morgens, deshalb joggt er tagtäglich kilometerlange Strecken, trainiert und lebt auf vollen Touren. Normalerweise spricht er nicht darüber, wie er lebt. "Ich glaube, daß Menschen mit einem reichen, bunten, farbenfrohen Leben nicht viel von sich zu sagen haben. Ich habe einmal ein Interview mit Charley Chaplin gehört, wie jemand dem damals schon alten Mann die Frage stellte, wie sein Leben gewesen sei, und der nur sagte: 1 worked hard - nur soviel, daß er hart gearbeitet hat." Von der provozierenden, widersprüchlichen, unablässig aufreizenden Persönlichkeit Jan Saudeks kann man - auch wenn das so manchen nicht passen mag - zweifellos das gleiche sagen: Er arbeitet hart.

Heute herrscht bei uns die schon nahezu stereotype Meinung, daß Jan Saudek in den Anfängen seines Schaffens ein Humanist war, der durch die dargestellte Symbiose zwischenmenschlicher Beziehungen beeindruckte, später aber im Nihilismus, Verfall und Niedergang gelandet ist. Ich glaube hingegen, daß er sich wie kaum ein anderer in thematischer und stilistischer Einheit treu geblieben ist und nur die fortschreitende Zeit macht, daß er die Beziehungen zwischen den Menschen, die er zum Eckstein seines Schaffens gesetzt hat, aus immer weiteren Blickwinkeln direkt proportional zu seinen fortschreitenden Erfahrungen und Kenntnissen ins Auge faßt. Während nämlich am Anfang - ähnlich wie in jedem Menschenleben - die Grundbeziehungen des menschlichen Dreiecks "Frau-Mann-Kind" auf seinen Fotografien klar, schlicht und rein sind, komplizieren, soften und "verunreinigen" sie sich letzten Endes. Während anfänglich jeder dieser Akteure auf der vom Leben gesteckten Szene seine traditionell-klassische Rolle ausfüllt - die Frauen sind zärtlich, verführerisch und mütterlich, die Männer stark und schutzbietend, die Kinder niedlich und abhängig - kommt es später gesetzmäßig zu Modifikationen dieser Rollen, ja zu ihrer Profanisierung und Entweihung. Und somit auch zur Leugnung ihres Ideals. Und auch zu Verletzungen der Tabus von Ort und Zeit, in denen wir leben.

Es ist bezeichnend für Saudeks Fotografiererei, daß sie in ihren Anfängen von der bisher berühmtesten Ausstellung aller Zeiten inspiriert war - Family of Man. Einer Ausstellung, die vermittels eines halben Tausend Bildern von Fotografen aus aller Welt über das Geschick des Menschen nachdachte, über den Sinn des Lebens und dessen grundlegende Qualitäten, die ja für alle Menschen, ungeachtet, wo sie leben, die gleichen sind. Auch wenn diese Ausstellung auf ihrer legendären Rundreise durch die Welt aus irgendwelchen Gründen nicht in die Tschechoslowakei gelangt ist, so kursierten hier doch ihre Kataloge, von denen einer damals zu Beginn der sechziger Jahre auch in Jan Saudeks Hände geriet. "Diese Fotosammlung Family of Man hat mein Leben verändert. Ich beschloß, selbst so ein Buch über den Menschen zu machen, eine ganz törichte Absicht, denn Edward Steichen hatte unter tausenden von Fotografien ausgewählt und ich verbrachte damals den ganzen Tag in der Arbeit, so daß mir nicht viel Zeit zum Fotografieren blieb. Wenn ich in diesem Buch blättere, bin ich auch heute noch eigentümlich berührt wie damals als junger Mann und immer noch würde ich furchtbar gern so etwas machen."

An der Family of Man ging ihm auf, daß Fotografieren nicht heißt, hübsche Bilder machen, sondern vielmehr die Beziehungen zwischen Menschen begreifen. Seine Fotografien aus jener Zeit atmen vollstes Menschenwesen - ein an die Mutterbrust gedrucktes Kind, ein an der muskulösen Brust des Vaters ruhender Säugling, ein von einer Männerhand umschlossenes Kinderhändchen, die ersten Schritte der unsicheren Beinchen unter der sicheren Führung des Erwachsenen, der am Hosenbein seines Vaters zusammengekauerte Knirps, Teenager in Jeans, auf dem Motorrad, in einer Umarmung am Boden. Die Poetisierung von Kindheit und Jugend, die Glorifizier-ung der Elternschaft. Der Ausdruck einer in den Nachkriegstrümmern moralischer Werte das verlorene Paradies der Liebe, Menschenwärme und Freundschaft suchenden Generation. Zwar versinkt die Welt schon wieder in Gegensätzen, machtpolitische Interessen trennen sie in zwei unversöhnliche Hälften, doch der große Gedanke des in Musik, Literatur, Fotografie und der ganzen Kulturbewegung übermittelten Humanismus ist da. "Menschen! Wo auch immer sie sich weit und breit befinden, werden sie aus Schmerzen, Kampf, Blut und Träumen geboren; unter Liebenden, Trinkern, Arbeitern, Landstreichern, Spielern, Hüttenleuten, Musikern, Bergleuten, Reichen und Armen, Geliebten und Ungeliebten, Einsamen und Verlassenen, Grausamen und Empfindsamen. Sie bilden eine einzige große Familie, die sich an unseren Erdball drückt, um zu leben, um zu leben," schrieb Carl Sandburg im Vorwort zum Katalog Familiy of Man. Das hieß Hoffnung. Und von dieser Hoffnung sind auch die Fotografien von Jan Saudek erfüllt, Ihr Ausdruck ist auch Träumerei - über die Zukunft? Von einer großen fremden Welt? Von anderen Galaxien? jedenfalls blickt der versonnen auf seinem Bett am Fenster kauernde Bub aus dieser Welt hinaus, das Mädchen mit dem romantischen Strohhütchen schaut hinter der beiseite geschobenen Gardine hervor in die Ferne, der junge auf der Eisenbahnschranke beobachtet den durchfahrenden Zug und träumt von geheimnisvollen Fernen. Und der kleine Bub mit der großen Tasche, der energisch auf der verschlammten Straße einherstapft? Der hat sich schon aufgemacht, die Erkenntnis zu suchen.

Saudek, der so erbarmungslos der eigenen Kindheit beraubt wurde, wird von Anfang an von der hartnäckigen Vision des gelobten Lands verfolgt. Das Erlösungsmotiv, dies traditionelle Glaubensmotiv alle Verfolgten, begleitet die meisten seiner intimen Geständnisse. Oft verschmilzt es ihm mit Freiheitssymbolen, die hier die verschiedenste Gestalt annehmen - eine Verkleidung, Maske, ein romantisches Kränzlein, ein Cowboyhut, eine amerikanische Flagge, ein starkes Motorrad, auf dem man Berg und Tal überwindet ... Sie helfen, den Traum hervorzurufen. Den Traum vom Gelobten Land, wo die Kinder Kinder bleiben, wo sie Raum für ihre Spiele, Sehnsüchte und Betrübnis haben, von den zarten Berührungen der Begegnung und den Tiefen der Einsamkeit, vom Land ohne Gleichgültigkeit, Rücksichtslosigkeit, Grausamkeit, Leere, Angst vor irgendwem und irgendwas, vom Land der neugewonnenen Sicherheiten und Freiheiten, wo es sich noch in einer sorglosen Menschhaftigkeit leben läßt und man sich ohne Furcht vor der Demütigung durch die große Welt dartun kann. Deshalb überläßt er auf seinen Fotografien auch nichts dem Zufall, inszeniert und arrangiert sie ohne Ausnahme. jede von ihnen ist eigentlich eine selbständig intime Geschichte und alle zusammen ein Ruf nach menschlichem Kontakt, nach Kommunikation. Ein Theater, eine künstlich erbaute Welt, doch ist der Zuschauer ä priori bereit, diese Inszenierungen als Wirklichkeit hinzunehmen. Denn in ihnen ist alles so, wie es sein könnte, wenn... oder besser, wie es ist, wenn wir uns den eigenen Vorstellungen und Träumen hingeben. Sind folglich seine Modelle - Schauspieler? "Nein, sie stellen sich selbst dar. Ich versuche nur, ein Idealporträt von ihnen zu machen, sonst nichts. Ich schaffe für sie eine Traumwelt und automatisch beginnt darin irgendein besonderer Faktor zu wirken... Menschen sind gelöster, aufrichtiger, wenn sie in eine ungewöhnliche Situation geraten, wenn sie Kragen, Krawatte oder Handtasche ablegen ... Ich zwinge sie zu nichts, bringe sie nur in eine Rolle, von der ich annehme, daß sie allgemein ist. Diese Leute sind eigentlich Akteure in einem größeren Stück - keine Schachfiguren, sie fuhren Gefühle vor, die sie selbst haben."

Jan Saudek liebt Kontraste, vor allem darauf beruht die Poetik seiner Aufnahmen. Ein kleines Mädchen in der Pose einer Frau, eine auffordernd schamlose Göre mit einer Puppe unterm Arm, der üppige Körper eine Matrone mit keuscher jungmädchengeste, eine Kurtisane mit Unschuldsaugen. Kinder verhalten sich wie Erwachsene und in Erwachsenen sind Kindheitsmerkmale anwesend. Zu allem Kostüme und Dekorationen, Marionetten, Perlenschnüre, Blumensträuße, Strohhüte, Korsetts, jungfernkränze, Schminken, Masken, Wandschirme, Ballettschuhe, Sonnenschirme ... unerläßliche Proprietäten zur Befreiung, Loslösung. Die berauschende Droge der Romantik ruft eine visionäre Welt aus phantasiegeborenen Vorstellungen herauf. Zieht nämlich der Mensch ein ungewöhnliches Kleidungsstück an und umgibt ihn eine Dekoration, die nur aus einer abbröckelnden Mauer zu bestehen braucht, legt er eine Clownmaske an, ist er nicht mehr er selbst, sondern ein anderer, jemand, der er gerade sein will.

Und dann - die Nacktheit. "Nacktheit ist die natürlichste Sache auf der Welt, sie macht die Frau zur Frau und den Mann zum Mann, heute gleichviel wie vor hundert Jahren: Ich entkleide eine Frau, damit sie ewig ist." Vor allem Nacktheit ist für ihn eine Verheißung von Freiheit. Saudek kennt die weibliche Psyche vollendet und beherrscht sie mit Leichtigkeit. Womöglich ist das keine Beherrschung: Frauen werden von sich aus willig zu Spielgefährtinnen. Sie lassen sich be- und entkleiden, sich in die Gestalt seiner Visionen kneten. Gern helfen sie ihm, diese seine Welt aufzubauen - eine Welt der erfüllten heimlichen Wünsche, eine Welt der süßen Sündhaftigkeit, der entbrannten Gefühle, der Zärtlich- und Sinnlichkeit, Schamlosigkeit, Scheu, Gewalt, Ergebenheit, Perversion ... Gern leben sie die übernommene Rolle aus, denn sie ahnen, daß sie damit genießen werden, was für sie ohne Rücksicht auf Aussehen, soziale Stellung und auch Alter am kostbarsten ist - den Zauber der eigenen Weiblichkeit; einen Geschmack vom Gefühl der femme fatale, des schicksalhaften Weibs. Und Jan Saudek schafft es wirklich, eine jede Frau reizend und verführerisch zu machen. "Ich sehnte mich nach Popularität, Ruhm und Reichtum - nichts davon habe ich erlangt. Aber ein paarmal bin ich der unaussprechlichen Schönheit nahegekommen immer war es eine Frau - und das war für mich viel mehr."

Saudeks Romantik, ursprünglich von humanistischem Pathos und oft auch Sentimentalität erfüllt, erfuhr im Lauf der Zeit echte Wandlungen. Die demonstrative Glorifizier-ung der Familienbande ist verschwunden. Auch die Bezauberung an den Wandlungen und Gefühlsverwirrungen des Heranreifens ist in den Hintergrund getreten. Die Zärtlichkeit in der Beziehung zur Frau wird von einer immer aufdringlicheren Aggressivität eingefärbt, ja von der Lust zu demütigen, niederzutreten, zu erniedrigen. Auf der Szene erscheint - der Mann. Nicht mehr nur als Beschützer, Stütze, Inspiration für die Darstellung der Weiblichkeit, sondern als - Kraft. Als bewundernswertes Element. Als Sieger. Als ' neues Sexidol. Saudeks feine Ironie, mit der er in menschliche Leidenschaften und Beziehungen Einblick nimmt, wird immer deutlicher, der Erotikgehalt ostentativer, die Vorliebe für aussagestarke Kontraste wächst von den Einzelaufnahmen in ihre Verkettung hinüber - in Bilderpaare oder ganze Serien. Als ob sich hier echohaft der Zauber der Bildgeschichten wieder einfände, die er als junge kurz nach dem Krieg auf den Seiten der Sunday Comic Section entdeckt hatte, weiche zum Einwickeln von Lebensmitteln in den UNRRA-Geschenkpaketen, der amerikanischen Hilfe für das verelendete Europa, gedient hatten. Eine greifbare Botschaft aus der Welt des Überflusses, Vergnügens und Abenteuers. Zusammen mit seinem Bruder hatte er diese in der Handlung oft allzu simplen, dafür aber herrlich kraftstrotzenden unsentimentalen Banalitäten verschlungen und sie quasi selbstverständlich zu unentbehrlichen Bestandteilen ihrer kindlichen Didactica Magna gemacht.

Daniela Mrazkova



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Text aus dem Verlagskatalog
für das Buch Intime Einblicke
in private Obsessionen:
Fotografien von Jan Saudek
Benedikt Taschen Verlag, 1997

"Noch immer träume ich von dem Tag, An dem ich das eine Foto aufnehmen werde, das eine wunderschöne Bild, das Liebe genannt werden könnte", sagt Jan Saudek und fotografiert die verschiedenen Menschen, die ihm begegnen: seltsam zusammenge- würfelte Personengruppen, häufig junge Mädchen in der Blüte ihrer Jahre. Und immer wieder nackte Frauenkörper, knabenhaft dünn oder auch fettleibig mit abgeschnürten Brüsten. All das spielt in morbider Hinterhofatmosphäre, in der man jederzeit das Auf- tauchen eines Hausmeisters, eines moralischen Saubermanns, befürchtet. Saudek ist eine Art Saubermann, allerdings einer, der aufräumt mit der doppelzüngi- gen Tabuisierung der in geheimen Dunkelkammern ausgetragenen Obsessionen. Saudek "wäscht seine schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit" - wie er selbst sagt. Ganz persönliche Erlebnisse haben seine Bilder geprägt: Die nachhaltige Begegnung mit der legendären Fototausstellung "The Family of Man" gehört ebenso dazu wie die Erfahrung, als Kind nur knapp den schrecklichen Experimenten des KZ-Arztes Dr. Mengele entgangen zu sein.

Heute gehört Saudek zu den international bekanntesten Aktfotografen. Mit seinen märchenhaft poetischen Kompositionen, mit seinen häufig pastellfarben kolorierten Schwarzweißbildern hat Saudek alle politischen Irrungen und Wirrungen seines tsche- chischen Heimatlandes überlebt. Seine Bildsprache ist kräftig, um nicht zu sagen def- tig, sie erinnert mit ihren Lustbarkeiten an mittelalterliche Genredarstellungen oder barocke Mythologien - und daraus bezieht sie auch ihre zeitlose Kraft.

Jan Saudek hat dieses Buch selbst konzipiert und die schönsten Bilder aus seinem letz- ten Werkzyklus dafür zusammengestellt.



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Jan Saudek über Jan Saudek


1935 bringt meine Mutter einen Sohn Karl zur Welt und gleich darauf mich, quasi als Dreingabe, und das bestimmt mich dazu, mein Leben lang die Nr. 2 zu spielen.
1935 war ich kaum geboren, da fotografierten mich meine Verwandten auch schon, genau wie jedes andere Kleinkind. Später habe ich sie fotografiert: das instinktive Bestreben, die Erinnerung an uns alle festzuhalten.
1939 scheint mir, ich hätte im März in einem deutschen Panzerwagen Adolf Hitler gesehen, doch war das sicher nur ein Soldat mit einem ähnlichen Schnauzbärtchen.
1943 lese ich zum erstenmal Celines Reise ans Ende der Nacht und begreife kaum etwas, doch zieht mich der Stil mächtig an.
1944 Sehe ich Menschen sterben. Auf Wegen, auf Feldern, erschossen. Manche zucken noch mit den Beinen wie im Film, sie sterben und sind wie aus Wachs, aus Gips. Nach Kinderart hab ich sie aus der Nähe betrachtet.
1945 Schmachte ich tierisch nach physischer Liebe, aber da läßt sich nichts machen: immer sehe ich fünf Jahre zu jung aus.
1945 knüpft die Menge an einer Straßenlaterne einen blutjungen deutschen Soldaten an den Füßen auf. Auch als Kind sehe ich, daß er von der Wehrmacht ist und nicht von der SS. Sie begießen ihn mit Benzin und stecken ihn an. Er schreit: "Mutti, Mutti!" In jedem Krieg kommen die Unschuldigen am schlimmsten weg.
1946 finde ich in einem Care-Paket aus Amerika eine Sunday Comic-Section, in der etwas eingewickelt war. Mit den leckeren Sachen verschlinge ich auch die Bildgeschichten. Little Abner, Captain Marjel, Spirit und bin vor Bewunderung außer mir.
1947 -1950 sehe ich in Life-Heften Reportagen von Margaret Bourke-White, Eugen Smithe und Giselle Freund über Evita Peron. Giselle Freund schenkt mit 1977 die Rolleiflex, mit der sie damals Evita fotografiert hat. Ich benutze sie heute noch. Don't cry for my Argentina!
1948 entdecke ich in irgendeinem Buch Reproduktionen der Werke von Jackson Pollock, Norman Rockwell (das ist eine Kombination!) und Bildern von White: ich bin fix und fertig. In dieser Zeit werden in meinem Land erste Bilder nach der Art von Omar und Melamit gemalt, ganz im Ernst. Nach Jahren versuche ich, sie irgendwo aufzutreiben, aber sie existieren nicht mehr. Ich bin überzeugt, daß die von Pollock erhalten geblieben sind.
1949 bin ich Motorrad gefahren (CEZ et 125?)
1950 bin ich in eine Frau reingefahren, aber nur ganz kurz. Noch volle drei Jahre muß ich warten - aber auch dann ist es noch nicht viel besser. Anfang der Fünfziger - Frankie Lane singt, ich bin hingerissen. Vaters Vorkriegsradio verweigert den Gehorsam und bekommt dafür Faustschläge.
1950 bekomme ich meine erste Kamera: Baby Brownie Kodak. Ein prächtiger Apparat, mit dem ich immer noch arbeiten würde, aber das merkwürdige Filmformat wird nicht mehr hergestellt.
1951 arrangiere und koloriere ich meine erste Fotografie. Unser Hausarzt, dem meine Mutter sie voller Verlegenheit zeigt, sagt ohne jede Verlegenheit, daß sowas hoffnungslos schlecht kitschig und überholt ist- Ich glaube aufs Wort und hörte sofort damit auf (nach Jahren finde ich das Bild wieder- es ist schön, so schön wie die Jugendzeit! Heute könnte ich das so nicht mehr! Heute habe ich das Bild nicht mehr, aber ich habe es noch einmal wiedergesehen, und das genügt. Noch einmal, noch einmal ...
1953 schlafe ich mit einer Jungfrau - selbst eigentlich noch Jüngling. Das hätte eigentlich der grandiose Anfang eines Liebeslebens werden sollen - aber sehen Sie- schon bald gehen wird auseinander, für lange Zeit, für immer.
1955 wurde ich bei einer militärischen Nachtübung mit einer Meldung losgeschickt und gerate in eine Falle aus feinen Drähten. Es hat Stunden, ja bis zum Morgen gedauert, ehe meine verzweifelten Befreiungsversuche Erfolg haben. Damals erlebte ich zum ersten mal ein starkes Gefühl von Hilflosigkeit - und dann immer wieder.
1956 höre ich noch während meines Wehrdiensts irgendwo an der Westgrenze im A. F. N. Munich Pat Boone singen: I've Lost My Baby. So leicht und so natürlich! Unsere Schlagersänger dieser Zeit schmettern mit Büffelstimmen wie in der Operette.
1958 fahren mein Bruder und ich auf einem italienischen Motorroller, ganz unter dem Einfluß italienischer Filme. Hier im hohen Norden stoßen wir aber auf entsetzliche Verständnislosigkeit, oft sogar auf Prügel. Dieser tierische Ernst überwiegt bis heute: niemand zeigt ein Lächeln, alle tun sehr geschäftig und besorgt.
1959 kauft mir meine blutjunge Ehefrau meinen ersten wirklichen Fotoapparat. Eine Flexaret 6x6. Mir der arbeite ich heute noch, die Stifterin ist längst verschwunden. Zu Beginn der sechziger Jahre gerät mir ein Katalog der Ausstellung Family of Man in die Hände. Ich bin bezaubert und setze mir in den Kopf, selbst so ein Buch über die Menschenfamilie zu fotografieren. in dieser Zeit singt Roy Orbiso, die Rolling Stones singen I can get no satisfaction. Das macht auf mich einen Rieseneindruck. Ich tanze wie wild Rock'n Roll, manchmal kommt es vor, daß sich eine betrunkene Partnerin bei den exzentrischen Figuren übergibt - 26 Jahre später sehe ich dann, daß die Sachen, die ich damals tanzen wollte, mittlerweile gang und gäbe sind: heute heißt das Break Dance.
1965 lese ich den Prozeß von Kafka - und bin atemlos. Im Jahr 1988 lese ich in einer einzigen Nacht bis zum Morgen die Unerträgliche Leichtigkeit des Seins durch (und das noch auf Englisch). Die Situation wiederholt sich.
1966 zeigt mir ein Mädchen mit dem merkwürdigen Namen Bojmira ihr nacktes und gekrümmtes Hinterteil (Lordose). So richtig begreife ich diese Geste damals noch nicht - später werde ich sowas ohne Unterlaß suchen.
1966 höre ich im Radio Dylans Blowing in the Wind. Den Text hab ich damals nicht besonders verstanden, aber gleich war mir klar, daß hier jemand ist, der eine ganze Generation beeinflussen wird.
1969 stehe ich auf der amerikanischen Zweiundvierzigsten in New York. Allein. Und dann immer allein - bei der Rückkehr erkennen mich die Kinder nicht wieder.
1969 höre ich im Mittelwesten zum erstenmal Scarborough Fair Canticle von Simon und Garfunkel. Diese Melodie sollte mich noch weitere 14 Jahre fesseln.
1970 lande ich nach einer erfolglosen Ehe in einem Keller, nur für kurze Zeit, ehe ich aus allem herauskomme. Wasser läuft die Wände herunter, nachts höre ich, wie durchnäßte Putzfladen abfallen. Ich bleibe dann volle sieben Jahre da (in dies Verlies kam zu Beginn der siebziger Jahre meine Veronika: entdeckt, besamt, verlassen und schließlich auch porträtiert - das alles von mir allein!)
1971 durchweine ich die ganze Nacht bis zum Morgen wegen eines meiner Kinder (David, geboren 1966) und habe Angst, daß er stirbt. Er lebt weiter, aber ich habe ihn verloren.
1972 finde ich meine MAUER - bin mir aber noch nicht im Klaren darüber, wie wichtig sie für mich wird.
1973 versuche ich auch zu malen und zu schreiben. Alle sind sich einig: Scheiße. Über meine Fotografien herrscht in meinem Vaterland völliges Schweigen - unabsichtlich, wie ich später feststelle: mich kennt wirklich niemand.
1974 lerne ich Jana D. kennen und begegne zum erstenmal echter Verachtung für alle sittlichen Werte.
1975 mache ich der Veronika, die so schön riecht, ein Kind. Während der Herstellung verliert sie das Bewußtsein. Ich befürchte schon, daß sie mir gestorben ist, aber sie kommt zuverlässig wieder zu sich
1975 mache ich eine Bergtour, gehe ganz allein los und verirre mich - steige aber hartnäckig durch das dichte hohe Knieholz weiter. Auf einmal merke ich, daß ich mich an einer Stelle befinde, an der nie zuvor ein Mensch gestanden hat und wo mich, wenn ich hier umkäme, niemand suchen und wohl auch niemand finden würde.
1976 Mai bis Juli - liebe ich ein rothaariges Mädchen - und wohl noch vierzig andere: AlDS war damals noch nicht Mode.
1976 erhängt sich die Mutter meiner beiden kleinen Kinder mit einem Strick und ist bald vergessen. Ach, sie fehlt mir heute noch! Die treffe ich gottweiß wann wieder... Auch mein Vater stirbt: ein langes und vielleicht auch glückliches Leben. Von ihm konnte ich wenigstens Abschied nehmen.
1977 wirft mir der Bauch der Nacht die kleine Susanna in den Keller. Sie ißt Pillen, Schokolade und Salzstangen, wenn sie Durst hat, trinkt sie Speichel.
1977 werde ich nachts wach, die Augenhöhlen voll Tränen. Im Halbschlaf mache ich mit dem Bleistift eine Notiz auf die Wand und schlafe weinend wieder ein. Am Morgen steht das Wort"AUSCHWITZ" auf der Wand.
1978 schlucke ich Barbiturat und träume vom Paradies.
1979 geht Susanna. Auf die Frage, warum sie es so lange bei mir ausgehalten hat, sagt sie: "Weil du mir nie Fragen gestellt hast".
1980 bekomme ich die ersten tausend Dollar, das ist soviel wie mein Jahreslohn als Arbeiter, der ich übrigens immer noch bin.
1983 schlage ich im Langstreckenlauf (8 km) den besten Läufer unserer Gruppe. Später erklärte mir jemand, daß "der sowieso nicht besonders gut läuft". Illusionenkiller ...
1984 ist mit der endlosen Quälerei durch die Fabriken Schluß: Wie durch ein Wunder bekomme ich den Mitgliedsausweis vom Fonds der bildenden Künstler. Endlich frei. Mein Chef hat mir noch eine gesetzlich zulässige Kündigungsfrist von neun Monaten gesetzt. Aber was ist schon ein dreiviertel Jahr sinnloser und unnützer Schufterei gegen die 33 Jahre davor?
1985 befinde ich mich an einem FKK-Strand: bestürzt über die Schönheit und Erbärmlichkeit von uns Menschen.
1985 bekomme ich eine kleine Mansardenwohnung zugeteilt: dort habe ich meine Dunkelkammer, ein Bett und einen Tisch. Mehr brauche ich nicht. Dort wohne ich heute noch.
1986 sagt mir eine Neunzehnjährige mit tiefster Überzeugung, sie glaube nicht, daß alte Leute (so um die 40-50) das noch könnten - und mir fällt mein Tagebuch aus der Lehrzeit ein, in das ich über eine Putzfrau eingetragen habe, daß "die Olle mit vierzig neu entbrannt ist".
1986 Selbstmordversuch - ich war aber nie gründlich genug und so versage ich auch diesmal - zum erstemal hatte meine Schlamperei etwas gutes für mich.
1987 teilt mir eine Freundin mit, daß wir ein Kind haben werden. Ich glaube, daß war ein guter Vorwand für eine nähere Bekanntschaft.
1987 verspricht mir meine Frau, daß sie mich in eine Nervenheilanstalt einsperren läßt, wenn ich nicht ordnungsgemäß zahle, und daß die mich dort erst richtig zum Irren machen. Sowas ähnliches habe ich schon mal gehört.
1987 treffe ich mitten in der Nacht meine einstige Lieblingstochter Karolina. Wir erkennen einander nicht. Ich habe sie wie vor vielen Jahren als Kind im Erinnerung und sie mich als einen schwarzhaarigen Burschen. Heute sind wir weder das eine noch das andere.
1987 beschlagnahmt die Familie meine Negative ich muß eine Erpressung im großen Stil über mich ergehen lassen. Bei den endlosen Streitereien erfahre ich die reine Wahrheit über mich: Ich bin ein Trottel und Blödmann und ein Künstler, wie Anderle einer ist, werde ich im Leben nicht. Das sind Tatsachen, die ich schon immer geahnt habe. Nach fünf Monaten bekomme ich meine Negative zurück. Die Zeit ohne sie war wohl die schlimmste in meinem Leben.
1988 werde ich Kandidat des Künstlerverbands. Keineswegs Mitglied, nur Anwärter auf die Mitgliedschaft der niederste Rang in dieser Hierarchie von Titeln, die sich die Künstler untereinander erteilen. Nur ein kleiner Schiffsjunge an Bord eines in trägen Gewässern dahindümpelnden Schiffs.
1988 versuche ich es mit Licht zu schreiben: Die Gestalt der Liebe, Ergebenheit, Treue bis ins Grab. Das Antlitz der Heimstatt, die ich immer wollte und die ich nie haben werde. Erleben kann ich das nicht, nur darstellen. ich blicke zum sich verdunkelnden Horizont, hinter dem Frauen, Gold und Ruhm warten.
1989 Abendfüllende Liebe mit Monika, deren weiteren Namen ich nie erfahren habe. Ein unaussprechlich schöner Körper - im Inneren ein Computer: bei der Liebe beobachtet sie mich eiskalt und denkt dabei an die neuen Jeans, die sie von mir bekommt. Ach, die möchte ich noch mal haben! Noch heute muß ich an sie denken ...
1990 ach ja, ich vergaß! Auch meine Liebe ist gegangen! Schon lange war sie krank und am Morgen, als sie entschlief, bin ich ins Tal hinabgestiegen, über die Brücke gegangen und auf die steile Höhe gegenüber gestiegen. Und von dort aus habe ich zugeschaut, wie der Strom alles mitnimmt: meine Hoffnungen, Träume und Versprechen - aber auch Betrübnis und Schmutz - und gesehen, wie sich dann im Fluß allmählich die aufgehende Sonne spiegelt, die gleichermaßen alle bescheint: die Guten und die Bösen. Flow, river, flow
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